Der Exodus aus Ägypten in das gelobte Land erfüllt sich im Gekreuzigten.
Als er sich Ägypten näherte, sagte er zu seiner Frau Sarai: Ich weiß, du bist eine Frau von großer Schönheit.
Gen 12,11
Es irritiert. Mitten im hellen Kirchenraum mit seinem zwanzig Meter spannenden Tonnengewölbe ragt eine sieben Meter hohe dunkle Bronzeskulptur empor. Das riesige Kreuz mit dem menschengroßen Korpus steht genau in der Mittelachse vor dem Altar in der Vierung, dem Kreuzpunkt zwischen Quer- und Langschiff. Knapp 200 Jahre stand dieses Meisterwerk der Renaissance im Seitenschiff, bevor es 2016 wieder an seinen ursprünglichen Ort platziert wurde. Hier ist nicht nur sein kunstgeschichtlicher, sondern auch sein theologischer Platz. Denn Architektur und Kunst der Michaelskirche in München symbolisieren den Lebensweg Jesu. Wer in die Kirche eintritt, entdeckt zwischen den beiden Eingangstoren eine Figur Jesu als Kind, das eine Weltkugel in der Hand hält. Am Ende des Kirchenschiffes, über dem Altarbild mit dem Erzengel Michael im Kampf mit dem gefallenen Engel, schreitet dem Eintretenden Christus als der am Ende der Zeit wiederkommende Herr entgegen. Dazwischen zieht der Erhöhte den Blick an sich. Im Langschiff zwischen dem Kind und dem Kreuz erheben sich rechts und links Engelfiguren, die jeweils einen Gegenstand der Passion in den Händen halten. Im Chorraum finden sich Heiligenfiguren und markieren den Raum der Auferstehung. An der Schwelle zwischen dem irdischen Langschiff und dem himmlischen Chorraum steht der Altar, an dem die Eucharistie gefeiert wird, direkt hinter dem Kreuz. So sind Priester und feiernde Gemeinde auf den Gekreuzigten ausgerichtet.
Seine Schönheit ist irritierend. Statt eines zerschundenen, gequälten Korpus, der die Brutalität der Folter und des Leids dem Betrachter entgegenschreit, löst die kraftvolle, jugendhafte Figur Staunen über ihre Eleganz und Schönheit hervor. Sein Künstler Giovanni da Bologna, bekannt als Giambologna, ist ein wahrer Meister seines Handwerks. Dem Ideal der Renaissance folgend, lehnte er sich an den antiken Aktfiguren an und schuf den schönsten von allen Menschen (Psalm 45,3). Wird dadurch aber nicht der Martertod Jesu verharmlost?
Abrams Verhalten irritiert. Er hat Angst, wegen der Schönheit seiner Frau vom Pharao getötet zu werden, damit dieser ihrer habhaft werden kann. Für seine Sicherheit ist er bereit, seine Frau in das Haus des Fremden zu übergeben. Damit gefährdet er die Verheißung Gottes einer zahlreichen Nachkommenschaft. In den folgenden Versen klingen Motive der Exoduserzählung durch. Gott greift ein. Plagen überfallen Ägypten, bis der Pharao bereit ist, Sarai, Abram und seine Sippe wieder ziehen zu lassen. Das Exodusmotiv gilt als das Grundmotiv der Befreiung der Menschen durch Gott aus der Sklaverei, hinaus in die Freiheit des gelobten Landes.
Im Bronzekorpus verdichtet sich dieses Motiv. Seine irritierende Schönheit ist weder Flucht vor der Brutalität des Karfreitags noch Verharmlosung des Kreuzestodes. Sondern es „ist gläubige Schau einer inneren Wirklichkeit“, wie es die Homepage der Michaelskirche auslegt. „Im Paradox des real Gemarterten zeigt sich die alles verwandelnde Liebe Gottes. Dieser Leib ist Vor-schein der „Auferstehung des Fleisches“. Er bekundet: In jeder Eucharistie versammelt der Auferstandene die Seinen im Mahl. Die Gemeinde feiert die Gegenwart ihres Herrn. Der führt zur Einheit, stärkt den Glauben und schenkt Zukunft über den Tod hinaus.“