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Hochbetagte Lehrmeister

Bei wem bin ich tiefer Demut begegnet?

Abraham und Sara waren schon alt; sie waren hochbetagt. Sara erging es nicht mehr, wie es Frauen zu ergehen pflegt.
Gen 18,11

„Sie sollten etwas studieren.“ Dieser Ratschlag überraschte mich, versuchte ich doch gerade dem älteren Herrn beim Duschen zu helfen. Zwar war das Badezimmer im Krankenhaus extra großräumig eingerichtet, doch hatte ich selbst wenig Erfahrung in der Pflege. Es waren gerade einmal zwei Wochen seit Beginn meines Pflegepraktikums auf der Kardiologie vergangen. Vor Beginn meiner zweimonatigen Ausbildungszeit musste ich ein Formular unterschreiben, in dem mir meine Aufgabenfelder mitgeteilt wurden. Die Sorgen vor möglichen Fehlern und folgenden gerichtlichen Anzeigen reduzierten meinen Spielraum auf ein absolutes Minimum. Im Grunde durfte ich nichts machen, außer Patienten beim Essen zu helfen, die keine Hilfe benötigten oder beim Duschen, wenn sie es selbständig könnten. Betten durfte ich neu beziehen und dem Pflegepersonal unter Anleitung tatkräftig unter die Arme greifen. Doch meine Zeit fiel mitten in eine Grippewelle, die das Personal auf unter die Hälfte reduzierte. Schnell lernte ich die Abkürzungen für die richtigen Tabletten, Diabetikern Spritzen setzen und zahlreiche Menschen zu füttern sowie zu duschen, wie eben jenen älteren Herrn. Zunächst meinte ich, sein Ratschlag war ein höflicher Kommentar zu meiner Unbeholfenheit, aber da irrte ich mich. Vielmehr fiel ihm in den kurzen Gesprächen auf, dass in mir das Potential für ein Studium stecken würde. Er selbst habe über den zweiten Bildungsweg zum Studium gefunden und sei stolz, dass alle seine Kinder ebenfalls studiert haben. Auch wenn seine physischen Kräfte stark nachließen, wolle er weiterhin jüngere Menschen motivieren, aus sich etwas zu machen. Seine Fürsorge berührte mich und zeigte mir eine wunderbare Gestalt der Demut.
Nicht weniger bewegten mich einige der älteren Patienten, denen ich täglich mehrmals die Windeln wechseln musste. Wieviel hatten sie in ihrem Leben schon erlebt? Welche Verantwortungen getragen? Wie viele Jahre hatten sie ihr Leben vermeintlich selbst in der Hand? Wie viele Windeln hatten sie ihren Kindern gewechselt, sie gefüttert und angezogen? Und nun waren sie selbst wieder hilfsbedürftig. Der unterschiedliche Umgang mit dieser neuen Lebenssituation war mir sehr lehrreich. Besonders blieb mir eine ältere Frau in Erinnerung, die an sich in einer Haltung geschehen ließ, die besonders war. Vielleicht bin ich bei ihr wahrer Demut begegnet, die in ihrer Gebrechlichkeit unsere Menschenwürde aufblitzen ließ.
In meiner damaligen Kommunität lebte auch ein alter Mitbruder mit. Er war über Jahrzehnte Spiritual für Priester in der Diözese Bamberg gewesen. Viele Priester, die er in seiner aktiven Zeit begleitet hatte, kamen noch nach Nürnberg zu Besuch und holten sich weiterhin bei ihm Rat. Seine Milde erfreute uns alle. Auch ihn verließen seine Kräfte zusehends, was uns Sorgen bereitete. Nicht nur sein Körper, sondern auch sein Geist bauten ab. Immer öfters vergaß er, was er gerade sagen wollte. Dann folgten mit einem kleinen Lächeln die Worte: Wird wohl nicht so wichtig gewesen sein. Vermutlich wird auch er mit dem spürbaren Nachlassen gerungen haben. Aber in seiner Milde zu sich selbst begegnete mir wiederum eine berührende Gestalt tiefer Demut. Nach einigen Monaten entschied er selbst, in unser Altersheim umziehen zu wollen.
Auch Sara’s Lebensweg scheint sich seinem Ende zuzuneigen. Auf Nachwuchs hatte sie umsonst gehofft. Wie sehr sie damit zu ringen hatte, verrät die Schrift nicht. Wir können nur spekulieren. War sie von einer Demut erfüllt, die sie mit einem fürsorglichen Blick ihre jüngere Umgebung beobachten ließ? Konnte sie etwa vertrauensvoll an sich geschehen lassen und Hilfe annehmen? Oder bezauberte sie andere mit ihrer Milde zu ihnen und zu sich selbst? Vielleicht nicht. Gewiss ist nur, dass Gott nicht von ihr wich – wie auch nicht bei meinen Meistern der Demut.