Wann war für dich eine Zeit, in der du einen inneren Ruf verspürt hast?
Da sprach Gott zu Noach: Komm heraus aus der Arche, du, deine Frau, deine Söhne und die Frauen deiner Söhne!
Gen 8,15-16
Ein ausgebranntes Autowrack vor dem Bahnhof in Bukarest. Dort fanden wir Moise mit einem jungen Freund. Er könne gerade nicht über die Straße, denn dort seien Jugendliche einer verfeindeten Gang, sie hätten auch „sein“ Auto angezündet, das er als Schlafplatz genutzt hatte. Moise, außer sich vor Stolz und Freude, dass wir nach Bukarest gekommen waren, führte uns herum. Seit wir zum letzten Mal hier waren, waren Jahre vergangen. Zuerst begrüßten wir „Mami Flori“, die Blumenverkäuferin. Jeden Morgen um fünf kommt sie mit ihrer Ware und steht den ganzen Tag am Bahnhof, bis sie ihre letzte Blume verkauft oder verschenkt hat. Sie kannte früher alle Straßenkinder und war für sie eine gute „Mami“. Dann fanden wir „Vandam“, der immer noch Lack schnüffelt und Bier dazu trinkt. In all den Jahren hat er seinen Platz vor dem Kebabstand nicht verlassen. Ein Wunder, dass er noch lebt. Moise setzte die Führung fort, durch das alte Bahnhofsgebäude, wo unsere Sozialstation war, hin zur Polizei. Dort wurden die Straßenkinder nach der Revolution bei Razzien eingesperrt und dann wieder freigelassen, wenn sie wegen Hunger meuterten. Und jetzt zog der diensthabende Polizist seinen Hut vor Moise! Na, was brauchst du?
Ein Chef war Moise schon als Kind. Vor genau dreißig Jahren hatten wir ihn als kleinen Buben am Bahnhof gefunden, Oberhaupt einer Gruppe von Kindern, die aus staatlichen Heimen weggelaufen waren, sich am Bukarester Bahnhof angesammelt hatten und in den Kanälen hausten. Mit Stehlen, Drogen, Prostitution hielten sich die Kleinen über Wasser. Moise war einer der vielen, die wir in ein Kinderhaus aufgenommen hatten. Auch hier wurde er schnell Wortführer. Einer nach dem anderen ging in die Schule, sie lernten Berufe und fanden ihre Wege. Bei Moise schien alles zu scheitern. In der Schule flog er hinaus, Lernen war nicht seine Stärke. Als Jugendlicher sollte er in der hauseigenen Werkstatt mithelfen. Zu viel Werkzeug verschwand, der Hausmeister verweigerte ihm den Lehrplatz. Keinen Hilfsarbeiterjob hielt er durch. Das Einzige, was er eine Woche lang schaffte, war Nachtwächter – bis er in einer Ecke beim Schlafen erwischt wurde.
Später kam Moise oft zu uns nach Siebenbürgen. Er vernetzte sich schnell im ganzen Dorf und fand bei ELIJAH wieder Schutz und eine Gemeinschaft, in der er mitgetragen wurde. Bis es so weit war, dass er wieder provozieren musste. Eines Abends saß er in der Dorfbar, ein elender Raum mit Tischen und Stühlen und Gläsern, die schon am Morgen mit Schnaps gefüllt waren. Hier hatte Moise seinen großen Auftritt. Voller Übermut wollte er den Saufbrüdern beweisen, dass er der beste Lenker auf dem Pferdewagen sei. Er stieg auf einen Wagen, der vor der Bar stand, und wollte einen Blitzstart hinlegen. Moise knallte die Peitsche auf die armen Tiere, die vor Schreck aufsprangen. Vor aller Augen stürzten Pferde und Wagen in den Graben und landeten im Bach. Klatschnass tauchte Moise unter den Rädern hervor und stahl sich davon. Mit Geschrei und Flüchen zogen die Bauern die Pferde und den Wagen aus dem Bach; dann suchten sie Moise, um ihn zu verprügeln. Doch noch in der Nacht brach er nach Bukarest auf. Wo wir ihn jetzt wieder fanden.
Seit meinem Besuch am Bahnhof denke ich darüber nach: Was uns bisher als Misserfolg mit Moise erschien, ist vielleicht sein Erfolg. Er tut, was Gott als Begabung in ihn hineingelegt hat. Er folgt seinem Ruf wie Noach, als Gott sprach: „Komm heraus aus der Arche …“. Die Zeit der Geborgenheit, in der er Freunde für immer gewann, ist vorbei.
Es war wie eine innere Stimme, die Moise zu einem Aufbruch gezwungen hatte. Zu lange war er schon in einer schönen Gemeinschaft mit braven Jugendlichen. Aber es war nicht seine Welt. Er musste hinaus, an seinen Platz, der offensichtlich der Bahnhof ist. Hier schützt er Kleine und schickt Hilferufe aus zu uns und an die vielen, die ihm begegnet sind und ihn nicht vergessen.
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