Wie gehe ich mit Belastungen aus der familiären Erziehung um?
Du aber wirst in Frieden zu deinen Vätern heimgehen; im glücklichen Alter wirst du begraben werden.
Gen 15, 15
Mein Vater, ein einfacher Bauer, war ein humorvoller, gütiger, lebensfroher, bescheidener und zufriedener Mensch. Aber es gab Themenbereiche, in denen er für uns Kinder ein anderes Gesicht und überraschende Reaktionen zeigte.
Einer betraf seinen Patriotismus. Als dreizehnjähriger Gymnasiast sang ich einmal inmitten meiner Geschwister in unserer Bauernstube lauthals eine Persiflage auf das Andreas-Hofer-Lied „Zu Mantua in Banden“. Die betreffende Passage hat sich unvergesslich in meinen Kopf eingebrannt: „Die Hände auf dem Rücken, die Füße auf dem Bauch, so aß Andreas Hofer die letzten Knödel auf.“ Mit hochrotem Gesicht voll Zorn und Empörung stürmte der Vater zur Tür herein und brüllte: „Wie kannst du nur so über einen Märtyrer lästern, einen Mann, der sein Leben für die Freiheit Tirols eingesetzt hat!“ Am liebsten, so schien es mir, hätte mich der Vater erwürgt. Erst viel später wurde mir die Schwere der Kränkung bewusst, mit der ich ihn verletzt hatte. Er war zwölf Jahre alt, als 1918 Südtirol über Nacht zu Italien kam und der direkte Weg nach Nordtirol verschlossen war – eine Wunde, die ihn ein Leben lang schmerzte. Sein Patriotismus hatte mit Freiheit zu tun, nicht mit romantischer Heimatliebe oder nationalem Stolz.
Ein anderer Bereich betraf sein religiöses Verhalten, das sich besonders am Sonntag zeigte. Abgesehen davon, dass wir alle selbstverständlich in die Kirche zur Messe gehen mussten, hatte der Vater die Gewohnheit, beim gemeinsamen Mittagessen die Predigt des Pfarrers mit seinen Worten zu wiederholen und zu interpretieren. Meist ging es um moralische Fragen, um Fleiß und Gehorsam gegenüber Papst, Pfarrer und Eltern. Einmal sagte ich: „Aber Vater, die entscheidende Frage ist doch, ob es Gott gibt oder nicht.“ Dieser Einwurf verschlug ihm die Sprache. Dann konnte er nur resignierend meinen Geschwistern erklären: „Da, schaut ihn an. Das lernen sie heute, die Studierten.“ Dass ich dann den eingeschlagenen Weg zum Priestertum verließ, schrieb er sicher meinem falschen Glauben zu.
Besonders verstörend am Verhalten meines Vaters aber fand ich seine Meinung über die Juden. Ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang er einmal anmerkte: „Ich mag die Juden nicht, weil sie unseren Herrn Jesus gekreuzigt haben.“ Natürlich gab er damit die jeden Karfreitag von der Kirche verkündete Sicht von den „ungläubigen“ Juden wieder. Trotzdem war es eigenartig, dass er ohne jede geschichtliche Kenntnis von der Leidensgeschichte des Volkes Jesu und ohne jemals einen jüdischen Menschen zu treffen Derartiges von sich gab. Dass die Kirche nach den Katastrophen des Zweiten Weltkriegs und der Shoah begann, ihre dogmatisch erstarrte und bibelferne Sicht bezüglich des Judentums zu überdenken und zaghaft zu ändern, erlebte ich als Segen für meine Generation.
Frieden mit der Elterngeneration findet man nicht durch Verurteilung und Kritik, sondern wenn man deren Fehler und Irrwege als Herausforderung zu verändertem Verhalten begreift. Diesen Weg gingen auch Sarah und Abraham, indem sie sich vom Götterglauben ihrer Eltern verabschiedeten und Neues wagten.