Woher nährt sich mein Selbstverständnis?
Die Feinde nahmen die ganze Habe von Sodom und Gomorra sowie alle ihre Nahrungsvorräte mit und zogen ab. Als sie abzogen, nahmen sie auch Lot, den Neffen Abrams, und seine Habe mit; Lot wohnte damals in Sodom.
Gen 14,11-12
„Wir leben mitten in einer Völkerwanderung.“ Diese Worte meines verstorbenen Mitbruders Christian Herwatz SJ vor gut 15 Jahren sind aktueller denn je. Flüchtlingsströme reißen nicht ab. Öffentlich wird wieder über Kontrollen innerhalb der EU-Grenzen diskutiert. Schlepperbanden verdienen sich eine goldene Nase. Gemeinden und Kommunen in Deutschland fühlen sich durch die hilfesuchenden Menschen überfordert. Einseitige Lösungsvorschläge und populistische Appelle prägen die Schlagzeilen. In der Bevölkerung verlieren die Regierungsparteien an Vertrauen. Die Umfragewerte der AfD sind im Höhenflug. Das Spiel mit den Ängsten um Hab und Gut ist im vollen Gange.
„In der Schul‘ waren sie vorn angeschrieben, das Wörtchen ‚haben‘ und das Wörtchen ‚sein‘“ und um die zwei dreht sich beinahe alles, ergänzt Nico ter Linden in seiner Auslegung der Genesis die Worte des niederländischen Poeten Ed Hoornik. Sodom und Gomorra stehen in der Bibel für die Welt, in der sich alles um das Haben, um den Besitz, um die weltliche Macht und Herrschaft dreht. Nun fällt Sodom selbst unter das Rad der Raffgier anderer Mächte. Seine Bewohner werden zu Sklaven, zu Hab und Gut ihrer Besitzer.
Ihr Gott ist Baal. Im Hebräischen wird er mit den Buchstaben des Wortes „haben“ geschrieben. Hingegen schreibt sich der heilige Name Gottes mit den Worten von „sein“.
Das Spiel mit den Ängsten um Hab und Gut ist ein leichtes, wenn man nicht weiß, wer man ist. Unzählige Bürger und Bürgerinnen der sogenannten neuen Bundesländer bezeichnen sich bis heute als Menschen zweiter Klasse. Sie fühlen sich nicht gesehen. In der Welt des Habens stehen sie als Verlierer da. In einem solchen Selbstverständnis kann alles Fremde nur als Bedrohung gesehen werden.
Abram hat seine Heimat verlassen und ist in die Fremde gezogen. Einzig aufgrund einer Verheißung Gottes. Auf dem Weg musste er sich von seinem Neffen Lot trennen. Dabei überließ er ihm die erste Wahl. Statt Zivilisation und Besitz blieb dem Gottesfürchtigen und seiner Sippe die Steppe. Wohin das Auge reichte, nur karges Land.
Wenige Zeilen nach der Gefangenschaft von Lot erzählt die Bibel von Abrams Reaktion, als er davon hörte. Anstatt in Schadenfreude zu verfallen, nennt er seinen Neffen seinen Bruder, der Hilfe braucht. Mit einigen Männern stellt er sich der gegnerischen Übermacht und befreit Lot aus der Sklaverei.
Wie am Beginn seiner Reise zeigt sich in Abrams Handeln sein tiefes Selbstverständnis, das sich nicht aus seiner Habe nährt, sondern aus seinem Bewusstsein, wer er ist: einer, den Gott herausruft und begleitet. Darin gründet seine Gerechtigkeit in den Augen Gottes und seiner Nachkommen.
Die aktuelle Völkerwanderung konfrontiert uns mit unzähligen Herausforderungen, die immer wieder aufs Neue am eigenen Selbstverständnis rühren: Haben oder Sein?