Welche Fenster habe ich in mein Lebenshaus eingebaut?
Nach vierzig Tagen öffnete Noach das Fenster der Arche, das er gemacht hatte.
Gen 8,6
Angelo Giuseppe Roncalli lernte als Sohn einer armen Bauernfamilie in der Lombardei Einfachheit, Beschränkung und Armut kennen. Als Militärseelsorger im Ersten Weltkrieg musste er in die Augen von jugendlichen Opfern von Gewalt, Krieg und tödlichen Auseinandersetzungen schauen. Als päpstlicher Visitator in Bulgarien, als Apostolischer Vikar für Griechenland und die Türkei und als Nuntius in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg bekam er einen Blick für die Dringlichkeit von ökumenischer, politischer und gesellschaftlicher Versöhnungsarbeit. Und das Vertrauen in den deutschen Kardinal Augustin Bea und den aus Mähren stammenden Prälat Johannes Österreicher öffneten schließlich dem mit siebenundsiebzig Jahren gewählten Papst – er nahm den Namen Johannes XXIII an – die Augen für eine geschichtlich notwendige theologische Ausrichtung der Gemeinschaft der Kirche, besonders was ihr Verhältnis zum Judentum betraf. Als der Papst dann überraschend ein Ökumenisches Konzil einberief, soll er – so eine legendenhafte Erzählung – auf die Frage nach dem Grund seines Entschlusses zu einem Fenster im Vatikan gegangen sein und es demonstrativ geöffnet haben. Welcher Art dieses Fenster sein sollte, erschloss Johannes XXIII. bei der feierlichen Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils am 11. Oktober 1962 den Versammelten in einer beeindruckenden programmatischen Rede von bleibender Gültigkeit.
Aufgrund eigener Erlebnisse belastete den Papst, dass die Luft in der Arche der Kirche, die sich als rettendes Schiff des Glaubens verstand, immer stickiger, verbrauchter und beklemmender wurde. Die Fenster waren geschlossen, um Aufklärung und Moderne, die man als moralische Irrtümer verstand, den Eingang in die Kirche zu verwehren. Der Papst sah nun den Tag gekommen – Aggornamento hieß das Leitwort seines Handelns –, die Fenster der katholischen Kirche zu öffnen und frischen Wind und neuen Geist in ihren Raum strömen zu lassen. Mutig forderte er mit klaren Worten die Versammelten auf, nicht mehr auf die Unglückspropheten zu hören, die überall nur Untergang und Unheil sahen, sondern den Blick nach vorne zu richten. Er sprach von einem neuen Pfingsten, das den Dialog und die Aussöhnung mit der modernen Welt zum Ziel habe. Durch die geöffneten Fenster sollen die Versammelten auf „die schwersten Sorgen und Fragen, die der Menschheit zur Lösung aufgegeben sind“, schauen und mit dem Licht des Glaubens hilfreiche Wege anbieten. „Mit dem beginnenden Konzil hebt in der Kirche ein Tag strahlenden Lichtes an. Noch ist es wie Morgenröte, und schon berühren die Strahlen der aufgehenden Sonne unser Herz.“ Ein begeisterndes Schlusswort. Und tatsächlich, das Konzil wurde ein solches Licht.
Noach ist ein kluger Baumeister. Er hat in seinen rettenden Holzkasten neben der Luft und Licht spendenden Luke unter dem Dach auch ein Fenster installiert, um den Blick nach außen nicht zu verlieren. Und am ersten Tag, als das nach vierzig Tagen Dauerregen möglich war – ein biblisches Aggornamento – hat er das Fenster geöffnet. Der Blick geht jetzt nach vorne. Welche Fenster habe ich in mein Lebenshaus eingebaut?
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