Von wem kannst du sagen, dass er oder sie auserwählt ist?
Meinen Bund aber richte ich mit Isaak auf, den dir Sara im nächsten Jahr um diese Zeit gebären wird.
Gen 17,21
Sechzehn Kinder sitzen auf Mini-Stühlen im Kreis um Minodora und singen ein Lied. Die Kleinen verfolgen genau die Bewegungen ihrer Erzieherin und versuchen sie mitzumachen: klatschen, mit den Füßen stampfen, die Arme hochheben. Die Schützlinge sind ganz konzentriert und merken gar nicht, dass ich in den Raum gekommen bin.
Wir sind im Kindergarten des Sozialzentrums Casa Martin in Nou. Die Wände sind geschmückt mit bunten Zeichnungen. Die Kinder haben den Winter gemalt, Schneeflocken aus Krepppapier tanzen an der Decke, selbstgebastelte Tiere sind in ihrem Zoo ausgestellt. Ich staune über die vielen und immer neuen Ideen von Minodora, mit denen sie den Kindern Malen, Zahlen, Buchstaben, Singen, Händewaschen und Zähneputzen beibringt. Sie strahlt Ruhe aus, hier wird nie geschrien. Das ist nicht selbstverständlich, denn die Kinder kommen aus dem Roma-Viertel im Dorf. Von dort kam lange kein einziges Kind in den Kindergarten. Die Mütter kämpfen sich in verwahrlosten Verhältnissen durch und schafften es nicht, ihre Kinder jeden Tag und pünktlich zur Schule zu schicken. Jetzt haben wir viele Kinder mit Musik und Spiel zum Zentrum gelockt. Für die Erzieherinnen aber ist es sehr schwer, die wilde Schar zu bändigen. Sie brauchen viel Energie und haben oft keine Erfahrung, und so geben viele schnell auf.
Minodora ist die beste unserer Betreuerinnen. Vielleicht weil sie selbst mitten im Roma-Viertel aufgewachsen ist. Zuerst kam sie in die Musikschule und lernte Saxophonspielen, dann folgte die Hausaufgabenbetreuung. Ihre Mutter half morgens mit, von Haus zu Haus zu gehen, um die schlafenden Kinder aufzuwecken, damit sie zum Lernen kommen. Unter den vielen Kindern aus der Siedlung unten am Bach stach Minodora heraus. Sie hat die Schule abgeschlossen und eine Erzieherinnenausbildung gemacht. Viele junge Burschen werben um sie. Eine Zeitlang war sie mit Daniel zusammen, der kein Roma ist, er wollte heiraten, doch Minodora lehnte ab. Es passt nicht, meinte sie schweren Herzens und gab ihn frei.
Manchmal ist Minodora sehr erschöpft. Neben ihren täglichen Kindergartenstunden gibt sie noch Fortbildungskurse für ihre Kolleginnen und begleitet sie. Im Dorf ist sie sehr geschätzt, Mütter fragen sie um Hilfe. In der evangelikalen Gemeinde hat sie eine wichtige Rolle. Ich möchte sie in unser Führungsteam aufnehmen.
Minodora ist eine junge Frau, die herausleuchtet. Warum haben es andere aus ihrem Viertel nicht genauso geschafft? Warum hat gerade sie so eine starke und gute Mutter, die ihr vorangegangen ist? Warum wurde dieses Kind in die Casa Martin aufgenommen und so stark gefördert, andere nicht? Das werde ich oft gefragt, so frage ich mich auch selbst und finde keine klare Antwort. Es ist eher wie die biblische Auserwählung, die nicht durch Begabung, Tugend oder Leistung zu erklären ist. Es sieht wie göttliche Willkür aus, oder gar wie Ungerechtigkeit. Mit Isaak wird schon im Mutterleib ein Bund geschlossen, mit Ismael, seinem älteren Bruder, nicht. Dieser muss sogar mit seiner Mutter in die Wüste fliehen. Noch etwas hat Minodora mit Isaak gemeinsam: Sie wurde nicht nur geliebt und bevorzugt, sie bekam auch die Aufgabe, auf andere zu schauen und die Zukunft zu sichern. Dem oder der anderen wurde diese Verantwortung nicht aufgehalst. Sie wurden in das freie Leben der Wüste und der Welt entlassen. Minodora aber trägt eine göttliche Krone, sie trägt die Verantwortung für viele NachbarInnen und gibt ihr Leben für deren Zukunft.
Von wem kannst du sagen, dass er oder sie auserwählt ist?