das Licht, das das Chaos durchdringt
Bericht aus dem Sozialzentrum Casa Susanna, Nocrich
„Komm mit mir!“ Die kleine Anni mit dem dunklen Gesicht und strahlenden Augen nimmt mich selbstbewusst an der Hand. Sie führt mich hinauf in die Siedlung, Kinder springen umher rechts und links, alle sind auf den Beinen. Wir gehen auf ein blaues Haus zu, auf dem wie auf fast allen Häusern in der Siedlung die Aufschrift „ajutat de ELIJAH“ neben der Hausnummer aufgemalt ist. Diese Aufschrift „unterstützt von ELIJAH“ ist unser Programm für die ärmsten Familien. In den letzten Jahren wurden neue Heime für die ganze Romasiedlung gebaut. Hier wohnt ihre Familie.
Drinnen herrscht ein reges Getümmel, die Stimmung scheint geladen. Einige graue Katzenjunge mit blauen Augen werden von Marian wie Spielzeug durch das Haus gezerrt. Die schwangere Schwägerin, sie ist erst fünfzehn, raucht und stillt ihr Erstgeborenes. Essensreste, dreckiges Geschirr und Bierflaschen passen sich dem allgemeinen Chaos an. Neben dem Holzofen steht ein zusammengeklappter Rollstuhl.
Ich trete in das Schlafzimmer ein, es ist verdunkelt und aus einem alten Fernseher tönt leises Gezeter einer Comicfigur. Der vierzehnjährige Nicu blickt mir entgegen und rollt dabei scherzhaft die Augen. Dann streckt er die Zunge zum Spott heraus und lächelt müde. Seine grünen Augen funkeln, und er hat immer einen flotten Spruch auf den Lippen.
Nicu Moldowan hat eine Muskeldystrophie, die vererbt wird und als unheilbar gilt. Auch seine kleinen Brüder Rareş und Andrei leiden bereits daran, ein anderer Bruder ist schon gestorben. Seit einigen Jahren kann Nicu nicht mehr gehen und es fällt ihm schwer, seinen Oberkörper aufrecht zu halten. Mit seinen Händen greift er nicht mehr fest, die Krankheit schleicht stetig im Körper fort.
Auf seinem mit alten Kleidern überhäuften Bett beginnen die halbernsten Verhandlungen. „Kommst du mit? Ach, du kommst doch sicher mit ins Sozialzentrum!“ An vielen Tagen findet er einen neuen Grund, leider keine Zeit für mich und meine geplanten Unternehmungen mit ihm zu haben. Seine Augen lächeln aber und so merke ich, dass er nur überredet werden will. Er scheint hungrig nach Aufmerksamkeit zu sein. Niemand gibt sie ihm.
Wenn ich ihn dann mit Hilfe vieler Kinder, Geschwister und Cousins, doch überzeugt habe, beginnt unsere Reise in das Casa Susanna am Fuße des Hügels. Ich schiebe einen Arm unter seinen Beinen hindurch, den anderen lege ich um die Schultern und hieve ihn in den Rollstuhl. So sind wir bereit für die Abfahrt. Je weiter wir gemeinsam den Berg hinabsteigen, desto mehr Kinder folgen uns, hängen sich an, rufen uns zu. Nicu antwortet ihnen mit sicherer Stimme und nicht immer zur Gänze jugendfrei. Wir gehen auch vorbei an seiner Mutter mit dem Bierglas in der Hand, bereits am frühen Vormittag ist sie beim Schwager eingekehrt.
Unser gemeinsames Programm im Sozialzentrum beginnt: Musik machen, zeichnen, gelegentlich schreiben.
Nicu ist schwer länger für eine Sache zu begeistern. Auch hier will er überredet werden. Intelligent überlistet er mich, ihn höflichst ans Klavier zu bitten. Er lernt kurze Lieder am Keyboard, etwa Titelmelodien aus Zeichentrickfilmen, Kinderlieder oder alte rumänische Klassiker. Er spielt nur mit der rechten Hand, die
linke muss sie stützen, um die Tasten zu drücken. Jetzt spüre ich seine Lust am Lernen. Danach sitzen wir oft mit anderen Buben gemeinsam im Hof und sprechen über Mädchen oder wer von uns mehr Bartwuchs hat. Eine Idylle entsteht, wo sie nicht immer leicht zu finden ist.
Diese Momente sind heilig. Jeden Tag begebe ich mich auf den Hügel zu ihm. Wird er heute meine Einladung, ins Sozialzentrum zu kommen, annehmen? Er blockt oft ab, verschließt sich, schaut ins Leere und lässt das Chaos an sich vorbeiziehen. Er lässt mich dennoch seine Nähe spüren, denn sie ist voll Ehrlichkeit und Kraft. Ich bewundere seine genaue Beobachtungsgabe, den starken Willen und seine Bestimmtheit im Ton. Das Wort ist sein Verteidigungsmittel, weil er es mit Schlägen nicht vermag.
Der Unheilbarkeit stehe ich oft ratlos gegenüber, aber in vielen wertvollen Momenten, die er mir schenkt, sehe ich ein Licht funkeln. Das Licht, das ich in seinen Augen sehe, strahlt hindurch durch das Chaos seines Umfelds und die Tragik seiner Krankheit.
Fridolin aus Österreich, Zivildiener 2022/23