Wer wurde dir anvertraut? Wer ist dir so nahegekommen, dass er deine Hand und dein Herz öffnet?
Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem, der es seinem Bruder nimmt.
Gen 9,5c
„Ich bin Volontär für die Flüchtlinge“, erklärt Moise voller Stolz. Mit meinem alten Freund gehe ich über den Bahnhof in Bukarest. Hier haben wir ihn vor dreißig Jahren aufgelesen – als Straßenkind. Jetzt ist er einer der Helfer, die die ukrainischen Vertriebenen versorgen. Für seinen Einsatz bekommt Moise die übriggebliebenen Suppenportionen, die verteilt er dann an seine Freunde, die wie er noch auf der Straße leben. So entsteht eine bunte Menschheitsfamilie am Bahnhof.
In der Halle beherbergen große geheizte Zelte die Fremden. Unzählige freiwillige Helfer bieten Essen, Kleidung, Sim-Karten zum Telefonieren, Futter für die mitgebrachten Haustiere, Tickets zur Weiterreise. Die Rumänen sind endlich die Gebenden, das macht sie stolz. Manche Leute konnten nur einen Koffer mitnehmen, weil sie die gebrechlichen Eltern stützen müssen. Eine alte Frau, die nicht mehr gehen kann, wird in einem Einkaufswagen geschoben. Verzweiflung steht in alle Gesichter geschrieben. Die vielen Menschen, die fleißigen Helfer und die Geflüchteten, bewegen mein Herz. Welche Schicksale stehen dahinter?
Vor einiger Zeit meldeten wir bei der Registrierstelle, dass wir Flüchtlinge aufnehmen. Um Mitternacht kam der Zug in Sibiu an, eine Mitarbeiterin holte die zwei Familien ab, die uns zugewiesen wurden. Totenstille herrschte im Auto. Nach der unendlich langen Reise waren die Menschen müde, und sie standen unter Schock. Tage hat es gebraucht, bis sie reden konnten. Ihr einziger Wunsch war, so schnell wie möglich wieder zurückzufahren. Ihre Verwandten, Freunde, Nachbarn, ihr Leben zurückzugewinnen. Doch bald sahen sie, wie unmöglich das war. Charkiw, ihre Heimatstadt, liegt in Trümmern. Deniza, eine der Mütter, sagte, dass alle aus ihrer Siedlung weggegangen seien. Es gibt kein Zurück. Nun beginnen sie, Rumänisch zu lernen. Deniza und ihre Töchter Polina und Maya arbeiten in der Töpferei. Polina studiert Architektur, sie versucht, online weiterzumachen. Maya braucht unbedingt wieder Freunde, sagt die Mutter. Wir suchen eine Schule, wo auch andere ukrainische Kinder sind. Die Großmutter Luba mussten wir mit Medikamenten beruhigen, ihr Herz wollte den Kummer nicht mehr aushalten. Jetzt näht sie mit unseren Frauen in der Haushaltsschule. Die Buben im Dorf bewundern Demyan, er war in einem Profi-Fußballverein und zeigt sein Können. Aber er will nicht in die Schule gehen. Plötzlich sind die Ukrainer in unsere Hand gegeben. Wir teilen unser Leben und wachsen zusammen. Unsere Roma-Kinder haben sich schon mit ihnen angefreundet.
In der Schöpfung hat Gott die Tiere in unsere Hand gegeben, uns anvertraut. Die tragische Geschichte von Kain und Abel überträgt diese Verantwortung drastisch auf die Mitmenschen. Sie sind Brüder und Schwestern. Für jedes Leben fordert Gott Rechenschaft. Der schreckliche Krieg im Nachbarland hat unserer Gemeinschaft ukrainische Mütter und Kinder zugesellt. Jetzt sind wir Familie und lernen, miteinander zu leben. Jeder Tag ist spannend. Die neue Nachbarschaft und Verwandtschaft holt aus allen Überraschendes heraus. Ein Aufbruch ins Menschliche.
Wer wurde dir anvertraut? Wer ist dir so nahegekommen, dass er deine Hand und dein Herz öffnet?
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