Wo lebe ich lieber? Wohin zieht es mich?
Abram ließ sich im Land Kanaan nieder, während Lot sich in den Städten jener Gegend niederließ und seine Zelte bis Sodom hin aufschlug.
Gen 13,12
Mit dreiundzwanzig zog es ihn nach Berlin. Warum, weiß er selber nicht mehr genau. Es war auf jeden Fall ein Augenblick in seinem Leben, der nach Veränderung rief. Ohne viel Geld und ohne eine Menschenseele zu kennen, quartierte er sich in Berlin-Lichtenberg in einer äußerst bescheiden ausgestatteten Wohnung ein. Dann stürzte er sich neugierig in die Anonymität der fremden Stadt. Überraschend bekam er dabei Hilfe. Ein Graffiti zwang ihn auf einem seiner ersten Spaziergänge zum Stehenbleiben, Verweilen, Nachdenken. Es stellte einen übergroßen alten Bleistift – vorne blau, hinten schwarz – in Form einer Pistole dar, mit der klaren Botschaft: Die Waffe, um die Stadt und die Menschen darin zu verstehen, ist das Wort. So entschied er sich zum Schreiben eines Tagebuchs. Es ist die Fundgrube, aus der er jetzt vor mir sitzend begeistert schöpft und erzählt, wie sich ihm über alle körperlichen Sinne das Geheimnis der Stadt enthüllte. So lernten seine Augen neben imposanten Gebäuden, eintönigen Betonbauten und einer baulich „verwundeten“ Kirche auch den Dreck, die schockierende Armut und das Elend auf der Straße zu sehen. Seine Nase durfte neben dem Gestank der Autoabgase, dem Duft der Parfüms in überfüllten Bussen, der Ausdünstung von Alkohol und Drogen auch den angenehmen und einladenden Geruch unterschiedlichster Küchen und vielfältiger Kulturen wahrnehmen und genießen. Seine Ohren nahmen neben hektischem Verkehrslärm, häufigem Sirenenalarm, Schreien und aggressivem Auftreten verwirrter Leute auch die stillen und leisen Töne von Stadtmusikanten mit Melodien aus der gesamten Welt wahr. Entscheidend aber ist der Mund, das Wort. Selber kommunikationsstark und beziehungsfähig, hatte er kein Problem mit der (vor)lauten Berliner „Kodderschnauze“. Er freute sich über deren Ehrlichkeit, saß mit Obdachlosen auf der Straße und feierte ausgelassen bei ihren legendären Straßenfesten mit. Sein Fazit: Die Stadt ist räumlich eng, geistig weit, körperlich anstrengend und emotional tief, im Sommer ein Traum, im Winter grau, kalt und windig.
Beruflich bedingt, und weil er die Möglichkeit zu wählen hatte, entschied er sich für die Rückkehr in seine bayerische Heimat. Back to the roots, Rückkehr aufs Land. Seine Augen glänzen, wenn er vom Baden in einsamen, von Bergen umgebenen Seen spricht. Vom Liegen auf einer Wiese in einer warmen Sommernacht mit dem Blick in den Sternenhimmel. Natur, Menschen, Tiere – sie strahlen Ruhe aus, geben ihm Kraft, machen ihn zufrieden. Was er vermisst, sind die kulturellen Möglichkeiten. Herausfordernd auch die Entfernungen, es braucht für alles mehr Zeit. Für ihn ist nicht die Frage: Stadt oder Land, sondern Stadt und Land. In beiden Lebenswelten fand und findet er ein Zuhause. Ein begeisterter „Stadtfreak“ und genießendes „Landei“.
Abraham, der Erwachsene, überließ dem jüngeren Lot die Wahl: Lot zog es mehr in die Städte, Abraham und sein Clan wiederum ließen sich im ihnen schon bekannten Land nieder. Beides eröffnet spezifische Möglichkeiten zur Gestaltung eines lang ersehnten Lebensraums.
Wo lebe ich lieber? Wohin zieht es mich?