Tiefschläge, die zu überraschender Stärke führen. Wo wurdest du erniedrigt?
Ich mache deine Nachkommen zahlreich wie den Staub auf der Erde. Nur wer den Staub auf der Erde zählen kann, wird auch deine Nachkommen zählen können.
Gen 13,16
Wenn die Rede auf „ploșnițe” kommt, senkt Moise die Stimme. Es ist ihm zu peinlich, wenn andere hören, dass er von Wanzen geplagt wird, in dem kleinen fensterlosen Zimmer, in dem er haust. Seit seiner Kindheit lebt er in Bukarest auf der Straße, er war auch in Sozialzentren und Kinderheimen, aber nirgends hat er es lange ausgehalten. Die Sommermonate verbringt er bei uns in Siebenbürgen. Schon immer hat er sich für Schwächere eingesetzt. So wurde er der König unter den Straßenkindern. Um Moise zu sehen, kam Razvan aus Wien zu Besuch.
Mit Tränen in den Augen erzählte Moise, wie er Razvan vor mehr als zwanzig Jahren in Bukarest am Bahnhof fand. Razvan war ein verwahrlostes Kind von drei oder vier Jahren, beide Eltern schwere Alkoholiker. Sie alle schliefen in einem Abbruchhaus. Der Kleine bettelte mit seinen größeren Geschwistern am Bahnhof, und Moise zeigte ihnen, wie man sich Essen organisiert. Razvan musste am Abend Geld zur Mutter bringen. Wenn es zu wenig war, prügelte sie ihn. An einem Abend fiel sie betrunken von einem Steg und starb. Andere Obdachlose fanden sie und schleppten sie in die Ruine. Dann liefen sie zum Bahnhof, um Razvan und seine Geschwister zu holen. Moise kam mit. Da lag die tote Frau auf einer schmutzigen Matratze, rundherum waren Kerzen angezündet. Razvan spielte am Boden, die Geschwister waren ratlos. Moise rief die Rettung an. Es kam die „IML“, Gerichtsmediziner, die den Tod feststellten. Der Leichnam wurde weggebracht. Moise, damals sechzehn, kümmerte sich um ein Armengrab auf dem Friedhof. Die kleine Schar stand am Grab, es kam noch der betrunkene Vater. Dann gingen sie zurück und bettelten um Brot.
An jenem Tag bedrängte Moise Pater Georg, der täglich zum Bahnhof kam: „Du musst Razvan mit ins Kinderhaus nehmen!“ Pater Georg versprach, sich um einen Platz zu kümmern. Vielleicht morgen … Der Kleine protestierte: „Acum, acum!“ Jetzt, jetzt sofort! Er nahm den Pater an der Hand und ging mit. Razvan ging in die Schule und machte dann eine Ausbildung als Koch. Über Freunde kam er nach Österreich, er schaffte den Führerschein, lernte sehr gut Deutsch und arbeitet nun in der Küche des Stifts Klosterneuburg.
Heute sagt er zu Moise und seinen Gefährten von früher: „Ich habe den besten Arbeitsplatz, den man sich vorstellen kann! Alle meine Träume haben sich erfüllt. Ich habe gute Freunde. Was mir noch fehlt, ist eine Familie mit vielen Kindern.“
„Ich mache deine Nachkommen zahlreich wie den Staub auf der Erde.“ Niemand kann die Staubkörner zählen, so erstaunlich ist die Entwicklung der Nachkommenschaft Abrahams. Ein anderes Bild sagt, sie werden zahlreich sein wie die Sterne des Himmels. „Dieses Volk ist dem Staub und den Sternen verglichen: Sinkt es, so sinkt es bis zum Staub, steigt es, so steigt es bis zu den Sternen.“ So erklärt der Talmud die Extreme im Schicksal Israels. Das Volk wird wie der Staub der Erde behandelt. Aus dem tiefsten Elend aber wird es sich erheben und nach den Sternen greifen. Für uns alle heißt das: Das Leiden kann zerstören oder einen positiven Druck erzeugen, die unglaubliche Kraft zum Aufbruch – wie Razvan sie hatte.
Tiefschläge, die zu überraschender Stärke führen. Wo wurdest du erniedrigt?