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Etwas Großes wird geboren

Wie erlebst du Distanzierung und Abwertung?

Er ging zu Hagar und sie wurde schwanger. Als sie sah, dass sie schwanger war, galt ihre Herrin in ihren Augen nichts mehr.
Gen 16,4

Eine Hochzeit wird gefeiert im Luxushotel. Champagner fließt in Strömen, ein mehrgängiges Menü wird aufgetischt, das Fest dauert bis in die frühen Morgenstunden. Für die gute Stimmung braucht es die ganze Nacht Musik. Die liefert die Gruppe Caravana GypsyJazz. Sie sind eine gefragte Band, die inzwischen ein vielfältiges Repertoire aufzuweisen hat und vor allem die Energie besitzt, stundenlang zu spielen und die Leute mitzureißen. Da versteht es sich von selbst, dass die Preise steigen und man rechtzeitig anfragen muss.

Die Musiker waren einmal Kinder auf der Straße, die später bei uns aufwuchsen. Sie besitzen eine unglaubliche musikalische Begabung. Jedes Instrument scheint ihnen angeboren zu sein. Wir ermöglichten allen einen Unterricht, sodass sie heute das selbst Angeeignete professionell anwenden können. Für unsere Hausmusik gründeten sie damals eine Gruppe namens Jamoja, zu Deutsch: Los geht’s! Und los ging es; bald durften sie bei Festen spielen und organisierten selbst Auftritte, verdienten ein wenig Geld und kauften sich bessere Instrumente und vor allem Lautsprecherboxen. Die einen gingen, andere kamen dazu. Heute heißt die Gruppe Caravana GypsyJazz und ist sehr gefragt.

Damit junge Talente von ihnen lernen könnten, wollten wir die Gruppe für unsere Musikschule engagieren. Doch leider: Keine drei Mal im Semester fand eine Unterrichtsstunde statt. Einmal hatte es angeblich einen Unfall auf der Strecke gegeben, dann war wieder der Hund krank, dann lagen einige Mitglieder mit Lebensmittelvergiftung im Spital – die Phantasie der Ausreden war grenzenlos. Enttäuscht beendeten wir das Experiment und vereinbarten bloß, dass die Musiker bei einzelnen Events auftreten sollten. Auch das war nicht leicht. Emanuel, der Chef der Band, wurde sehr geschäftstüchtig, als er mir erklärte, dass sie bis Sommer ausgebucht seien. Er könne einige Termine absagen, aber das bedeute, dass ich ihnen den doppelten Tarif für eine Nacht zahlen müsse. Da verzichtete ich lieber auf die Stars. Ein wenig erstaunt war ich allerdings, dass wir als ihre ursprünglichen Förderer nicht einen kleinen Vorzug genießen sollten. So werden wir sehen, was wir für den Herbst planen. Ich werde mich rechtzeitig bei Emanuel melden, damit zumindest die Ausrede mit fehlenden Terminen nicht zieht.

Die Musiker haben etwas von Hagar. „Als sie sah, dass sie schwanger war, galt ihre Herrin in ihren Augen nichts mehr.“ Die jungen Leute bringen eine große Leistung. Als Erstes haben sie unser Werk verändert, weil in ihrem Sog überall Musik eingezogen ist. Letztlich geht auch unsere Musikschule auf die Jamoja zurück. Heute weiß die Truppe, was sie wert ist. Manchmal protzen die Burschen und werfen mit Geld um sich, uns aber wollen sie keinen Rabatt gewähren. Das verbietet ihnen der Stolz. Sie können sich nicht eingestehen, dass sie einmal Straßenkinder und hilfsbedürftig waren. Soll ich mich ärgern? Nein, ihr Aufbruch verlangt den Bruch mit uns. Es ist wie eine Zeit der Pubertät und Ablösung. Doch wir können sehen, was sie leisten, und letztlich kommt es auch uns zugute, weil sich unser Motto erfüllt: Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.

Wie erlebst du Distanzierung und Abwertung?