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Und doch ist ein Lebenswille da

Wer kennt die Herkunft von Flüchtlingen? Wo hast du erlebt, dass eine Frau oder ein Mann davonlief?

Da sagte Abram zu Sarai: Siehe, sie ist deine Sklavin, sie ist in deiner Hand. Tu mit ihr, was in deinen Augen gut erscheint! Da misshandelte Sarai sie und Hagar lief ihr davon.
Gen 16,6

Wenn Lucica einmal zu Wort kam und sagen konnte, wie es ihr ging, murmelte sie nur: „Schwer.“ Und Tränen liefen ihr übers Gesicht, das einmal strahlend schön gewesen sein musste. Von ihren Kindern erfuhren wir, was sich in dem Haus am Ortsrand von Ziegental Tag für Tag abspielte. Der Vater hatte zwei Pferde, die er über alles liebte und pflegte. Mit ihnen fuhr er stolz durch das Dorf und machte Dienste bei den rumänischen Bauern. Abends standen sie mit dem Fuhrwagen vor der Dorfbar und warteten, bis ihr Besitzer betrunken herauswankte. Dann war er unberechenbar, jeder wich ihm aus. Er schlug sogar auf seine Pferde ein und fluchte laut. Seine Frau Lucica missachtete er, er schaffte ihr bloß grob an, was sie zu tun habe. Doch womit sollte sie Fleisch kaufen, wenn er kein Geld nach Hause brachte? Wenn er nachts betrunken in die Stube wankte, verlangte er, dass sie auf der Ofenbank auf ihn warte und ihm die Stiefel ausziehe. War sie, müde vom schweren Tag, eingeschlafen, prügelte er sie und schrie auf sie ein. Lucica hielt alles aus, wegen der Kinder. Doch man sah ihr an, dass sie am Ende war. Während der Corona-Pandemie starb sie dann elend im Krankenhaus, der Mann hatte sie nie besucht. Sie war ihm endgültig davongelaufen.
Dann war er allein, und es fehlte ihm eine Hausmagd, die alle Arbeit verrichten sollte. Die Töchter fragten herum, wo man eine Frau finden könne – am besten eine Witwe –, die noch einmal ihr Glück suche. Nach vielen Versuchen kam eine Roma-Frau. Sie war Kummer gewohnt, und so machte es ihr nichts aus, in das inzwischen heruntergekommene Haus einzuziehen. Sie machte Ordnung, kochte und versuchte, sich mit den neuen Umständen zurechtzufinden. Der Pferdekutscher war zunächst zurückhaltend, aber dann begann er auch die neue Partnerin zu quälen. Warum sind die Hühner noch draußen, hast du die Wäsche immer noch nicht gewaschen, das Kraut schmeckt mir nicht … Als er betrunken war und sie verprügeln wollte, packte sie ihre Sachen und lief davon. Tage später rief sie an und lud ihn ein, zu ihr zu kommen – aber dann sei sie die Chefin. Er kam, begleitet von seiner Tochter Andreia mit deren Kind. Doch es dauerte nicht lange, da warf sie ihn und das kleine Kind hinaus. Nur Andreia, die Mutter des Kindes, behielt sie zurück für ihren Sohn. Vielleicht würde das eine gute Partie werden.

Viele Frauen in den verwahrlosten Siedlungen haben es unvorstellbar schwer. Sie werden nicht weniger misshandelt als die Sklavin in der Hand von Sarai und Abram. Bringt dann die Sklavin die Kraft auf, davonzulaufen, dann blitzt in ihr noch ein Funke von Selbstachtung auf. Auch wenn sie in eine dunkle Zukunft läuft. Die Uhren gehen bei uns hoffentlich anders als zu Zeiten Abrams, und doch müssen manche Menschen aus dem Land oder aus ihrem Haus flüchten, weil sie keine Wertschätzung erfahren. Davonzulaufen ist ein letztes Aufbäumen.

Wer kennt die Herkunft von Flüchtlingen? Wo hast du erlebt, dass eine Frau oder ein Mann davonlief? Warum? Darüber lohnt es sich nachzudenken.