Dieses Mal sind nicht die Braven gesucht. Wo aber sind die Wilden?
Er wird ein Mensch sein wie ein Wildesel. Seine Hand auf allen, die Hand aller auf ihm! Allen seinen Brüdern gegenüber wird er wohnen.
Gen 16,12
Still war es abends in unserem kleinen Hof. Ich hatte noch zu tun, die Volontäre waren nach dem Abendessen in ihren Zimmern verschwunden und nun via Internet in einer anderen Welt, mit Freunden und Familie. Die Ecke mit dem großen Tisch war zu einem Abstellplatz geworden. Selten setzte sich dort noch jemand hin.
Das änderte sich, als vor einem Jahr Moise zu uns kam. Er hatte sein Leben auf der Straße verbracht, war zwischendurch bei uns im Kinderhaus oder Sozialzentrum gewesen, hatte es aber nie lange ausgehalten. Ein Haus mit Regeln, das war ihm zu eng. Er liebte die Freiheit am Bahnhof, die vielen Freundschaften und die Feinde, gegen die er sich durchsetzen musste. Als er wieder einmal ganz unten war, nahmen wir ihn ein weiteres Mal auf. Jetzt war wieder Leben im Hof, die Sitzecke lag nämlich direkt vor seinem Zimmer. An die Wände hängte Moise Fotos und selbstgemalte Bilder, in der Ecke stand griffbereit seine Trommel, auf dem Tisch ein voller Aschenbecher und eine Tasse mit kaltem Kaffee. Das Schild „Café Moise“ gab dem Ort den Namen.
Nachdem es einige Zeit gut gelaufen war, stürzte Moise ab und landete wieder am Bahnhof in Bukarest, kam aber nach kurzer Zeit zurück und brachte einen Gefährten mit, Costel, den wir seit Jahren als Drogenschnüffler kannten. Morgens um fünf saßen die beiden schon an ihrem großen Tisch, Moise rauchte seine erste Zigarette und ließ sich von Costel das Tagesevangelium vorlesen. Er selbst tut sich mit Schreiben und Lesen schwer. So konnte er das Morgengebet vorbereiten und seine Predigt halten. Nach dem Frühstück ging Costel zu seinen „Mädchen“, wie er die Hühner nannte. Er machte sauber und fütterte sie, brachte uns stolz die Eier. Eines Abends aber reiste er ab, niemand verstand warum. Zwischen den Freunden war offenbar etwas geschehen. Seither wartet Moise auf einen Freund vom Bahnhof, der kommt und ihm vorliest.
Frühmorgens läutet Moise die Glocke, damit alle pünktlich zum Gebet kommen. Jedem ruft er einen Gruß zu. In mein Gebetsheft hat Moise heute einen Zettel hineingelegt: „Du bist unsere secsi Mama. Ich liebe dich.“ Der Tag beginnt mit Witz und Freude. Nach dem Frühstück gehen alle an ihre Arbeit. Moise malt drei Bilder, wenn er gut gelaunt ist, am Nachmittag geht er dann ins Sozialzentrum. Die Kinder erwarten ungeduldig den „Komödianten“. Neulich setzte er eine schwarze Perücke auf und spielte den „verirrten Schwarzen aus Afrika“. Am Abend sitzt er wieder vor seinem Zimmer. Alle kommen ins „Café Moise“. Wir spielen Tischfußball, lachen, Moise raucht, das Telefon läutet. Mihaela ruft an, eine Ordensschwester, die hier ein Praktikum gemacht hat. Sie hat Sehnsucht nach Moise, der sie mit Komplimenten überschüttet. „Wann kommst du wieder zu uns?“ Es wird kalt, aber wir spüren es kaum, weil die Herzen heiß sind. Spät, endlich im Bett, schickt mir Moise noch eine WhatsApp-Nachricht: „Träume gut von mir, und morgen gehen wir zum Zigeunermarkt.“
Moise ist für mich wie der Wildesel: „Seine Hand auf allen, die Hand aller auf ihm!“ Wenn Moise da ist, dreht sich alles um ihn. Er bestimmt das Gebet, die Sitzplätze beim Essen, seine Zeichenmotive, er zieht die Schwierigsten an. Es gibt immer Überraschungen – aber dann ist er plötzlich wieder weg und fehlt sehr im Haus.
Ismael wird ein Mensch sein wie ein Wildesel; so lautete die Verheißung für den Sohn, den Abram mit der Mutter wegschicken musste. Er überlebte in der Wüste, und seine Nachkommen wurden zu einem starken Volk, das später Israel retten sollte.