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Aufbruch

Wenn alles bestens läuft, warum sollte ich dann was ändern?

Da ging Abram, wie der HERR ihm gesagt hatte, und mit ihm ging auch Lot. Abram war fünfundsiebzig Jahre alt, als er von Haran auszog.
Gen 12,4

Im Architekturstudium lief alles bestens. Es begeisterte ihn. Vor allem die Entwurfsprojekte entfachten seine Kreativität. Sei es die städtebauliche Umnutzung einer Gleisanlage um den Karl-Marx-Hof in Wien oder die Neugestaltung des Planetariums im Prater, sei es die Entwicklung von Wohnbaumodulen für eine kleine Siedlung oder die Planung des neuen Hauptbahnhofs, jedes Projekt hatte seinen Reiz und verlangte seine eigene Lösung. Dafür probierte er verschiedenste Arbeitsmethoden aus. Sein Zimmer glich zeitweise einem Altwarendepot. Wo man hinsah, lagen Papier-, Pappe- und Styroporreste herum. In einer Ecke türmten sich Dämmwolle, Stofffetzen und Lederstücke neben Glasscheiben und Kunststoffplatten. Modelle in verschiedensten Größen und Qualitäten beanspruchten den meisten Platz für sich. An der Wand hingen Handskizzen neben ausgedruckten Plänen. Scharfe Gerüche unterschiedlichster Klebstoffe und Farben konnten den Kaffeeduft nicht übertünchen. Wie eine kleine Bühneninszenierung erzählte der Raum von Stunden leidenschaftlicher Experimentierfreude und monotoner Bastelarbeit. Zahlreiche Nächte verbrachte er mit Gleichgesinnten in dieser Bastelstube und verwandelten Ideen in architektonische Formen. Gegenüber den Entwurfsfächern widmete er den theoretischen Einheiten weniger Aufmerksamkeit. Hier rettete ihn oft sein Kurzzeitgedächtnis. Nicht dass sie ihn unbedingt langweilten, sondern weil er ein anderes Ziel verfolgte. Ihn drängte die Zeit.
In seinem Sozialleben lief alles bestens. Nach der Schulzeit hatte sich sein Freundeskreis neu gebildet. Viele von ihnen waren frisch nach Wien gezogen, um dort zu studieren. Es folgten Housewarming-Parties, Leaving-Parties, Welcome-Home-Parties, bis zu simplen “It’s Friday-Parties”. Er war gut vernetzt. Nebenbei organisierte er mit Freunden Diskussionsrunden zu gesellschaftlichen und politischen Themen. Natürlich nutzte er auch die Zeit für große Reisen. Es war die Hochzeit des Lonely Planets. Der Roadtrip mit einem alten, verbeulten Bulli durch Europa gefüllt mit Taschen voller Wechselgeld prägte ebenso wie das Sommerpraktikum in New York. Mitten in all der frühzwanziger Leichtigkeit des Seins drängte es in ihm.
In der Pfarrgemeinde lief alles bestens. Er engagierte sich als Ministrant und in der Firmkatechese. Besonders die Begleitung der Teenager mit ihren pubertären Freigeistern machten ihn Freude. Hin und wieder zog er sich in ein Kloster zurück. Mitten in der Stille drängte es ihn.
Nach drei Jahren Studium zog er fort. Seinen ersten Studienabschnitt hatte er in der Tasche. Er hatte sich einen Job in London gefunden. Es schien ein kluger Schritt für seine Karriere. Aber das war es nicht, was ihn drängte aufzubrechen.

Abram hatte es gut in seinem Land Haran. Er hatte Grund und Boden, eine Frau, Familie, Knechte und Mägde, sowie Vieh. Es fehlte ihm nichts. Alles lief bestens. Warum sollte er all das Bekannte verlassen und sich der Gefahr der Fremden ausliefern? Allein die Verheißung Gottes drängte ihn dazu.

Sollte er wirklich die Architekturlaufbahn an den Nagel hängen? War die Sehnsucht Priester zu werden, wirklich die Verheißung Gottes für ihn? Diese Fragen drängten ihn zum Aufbruch. Er wollte sie in der Fremden prüfen.