Gelingt es in einem Konflikt, Schwächeren mit eigener Stärke zu helfen?
Da sagte Abram zu Lot: Zwischen mir und dir, zwischen meinen und deinen Hirten soll es keinen Streit geben; wir sind doch Brüder.
Gen 13,8
Hungerstreik. Paula hat nichts gefrühstückt und geht widerwillig in die Schule, ihre Tasche schleift sie lustlos hinter sich her. Wenn ich sie frage, was los ist, sagt sie: nichts. Zu Mittag kommt sie mit verweinten Augen ins Haus, isst nichts, geht ins Zimmer. Die Schultasche, Hefte, Bücher und Stifte, alles ist wirr auf dem Boden verstreut. Paula liegt auf dem Bett und starrt zur Decke. „Nichts ist“, antwortet sie, bevor die Erzieherin Ioana sie fragen kann, was los ist. Sie legt ihre Hand auf die Hand der Vierzehnjährigen. Jetzt schluchzt Paula, und es bricht aus ihr heraus. Zuerst wütend. „Feli und Andreea haben nicht das Recht, Mami zu dir zu sagen. Feli stellt sich immer in den Mittelpunkt, sie drängt sich nach vorne und umarmt dich, mich hast du ganz vergessen.“ Ioana hat von den Behörden das Pflegerecht für Paula erhalten, sie hat die Rolle der Mutter übernommen. Dort, wo das Kind herkommt, hat es keine Wärme gespürt, kaum Liebe von den überforderten Eltern. Paula war sehr glücklich, als sie bei uns aufgenommen wurde. Das Schönste war für sie, dass sie jetzt zu einem Menschen „Mami“ sagen konnte, zu Ioana. Und jetzt haben Feli und Andreea, die auch bei in unserer Gemeinschaft leben, aber nicht offiziell „in Betreuung der Pflegemutter“ sind, die Frechheit, zu Paulas Mami ebenfalls Mami zu sagen! „Das dürfen sie nicht, du bist die Mami nur für mich!“, klagt Paula und klammert sich an Ioana. Ioana nimmt das Kind in die Arme. „Ich bin deine Mami. Das bleibt. Du hast schon viel ausgehalten. Du bist sehr fleißig und lernst gut. Du kannst mir helfen, dass Feli und Andreea auch so stark werden wie du. Du bist ihr Vorbild. Und siehst du nicht, aus welch armen Familien die beiden kommen? Auch sie brauchen meine Liebe, und deine. Du bist ihnen überlegen. Hilf mir, dass die beiden es schaffen. Wenn auch sie Mami zu mir sagen, dann zeigt das, dass sie gerne bei uns sind.“ Paula ist plötzlich still. „Du glaubst wirklich, dass sie etwas von mir lernen können?“, fragt sie erstaunt. „Ja, das glaube ich. Und ihr habt viele gemeinsame Freundinnen, es wäre doch schade, wenn ihr nicht mehr zusammen sein könnt, nur weil ihr euch streitet“, meint Ioana. Paula drückt ihre Mami fest, dann steht sie auf. „Aber den Gutenachtkuss bekomme nur ich, gilt das?!“ „Ja, ja, ist gut.“ Jetzt muss Paula erst einmal etwas essen, ihr Magen knurrt schon laut.
Ich bewundere die Souveränität dieser Erzieherin. Mit wie viel Einfühlsamkeit, Gerechtigkeitssinn und Selbstlosigkeit hat sie einen Konflikt gelöst, wie er in den besten Familien vorkommt. Kain und Abel in homöopathischer Dosis. Ioana hat sich nicht geärgert und das unglückliche Kind nicht bloßgestellt, sondern geschützt. Sie hat das ungeliebte Kind zum liebenden Kind gemacht, indem sie es umarmt und zur Miterzieherin gemacht hat.
Diese Souveränität ließ mich an Abram denken, der seinen Neffen Lot und dessen Hirten, die schwächer waren als seine eigenen, stärkte. „Wir sind doch Brüder“, ließ er sie spüren. Abrams Souveränität floss zum jungen Lot und zu den weiteren Generationen als jene Stärke, die es braucht, um Frieden zu finden und zu stiften. Abram war – nicht zum ersten Mal – weder nachgiebig noch rechthaberisch, er war großherzig.
Gelingt es in einem Konflikt, Schwächeren mit eigener Stärke zu helfen?