Wo hat mir jemand in der Schwäche und im Versagen Nähe gegeben? Auf meine Not hingeschaut und nicht weggeschaut?
Deswegen nennt man den Brunnen Beer-Lahai-Roï – Brunnen des Lebendigen, der auf mich schaut.
Gen 16,14
Der Rabentanz – unser Konzert zum Abschluss des Schuljahres – war ein grandioses Fest. Zweitausend Freunde waren zu Gast, viele der Roma-Familien waren zu Fuß oder mit ihren Pferdewägen gekommen, um zu sehen, wofür ihre Kinder ein Jahr lang geprobt hatten. Verschiedene Gruppen traten auf und boten Musik und Tanz dar. Zu den Höhepunkten gehörte die Schatra Regala, die „Königliche Truppe“, die mit Geigen feurige Roma-Musik spielte. Die Sänger, zwei rundliche Buben in grellfarbenen Hemden, überboten sich gegenseitig. Alin hatte eine große viereckige Sonnenbrille auf, die ihn besonders cool wirken ließ. Zuca, der Leiter der Gruppe, hat einen besonderen Blick auf alle Musikschüler und sucht sich unter den Hunderten von Kindern die Begabtesten heraus, schult sie und hat es so in kurzer Zeit geschafft, eine Elitetruppe zu bilden, eben die „Königlichen“. Sie sind die gefragten Stars.
Am Schluss des Konzerts spielte das große Orchester mit über hundert Musikern. Hier machen alle mit, die Fortgeschrittenen und die Anfänger. Es gibt A- und B-Noten und so sind alle auf ihrem Niveau herausgefordert. Ich saß bei den Saxophonisten in der letzten Reihe. Vor uns waren die Kontrabasse platziert. Das Notenblatt des Buben vor mir fiel mir ins Auge: Es war bunt beschrieben mit vielen Zeichen, die dem Kind helfen sollten, die richtige Betonung, den Einsatz, die Pausen zu finden. Neben ihm stand Fernando, sein Lehrer. Er überblickte auch seine anderen, guten Schüler, aber sie brauchten ihn nicht so sehr wie sein Schützling Stefan. Man sieht Stefan an, dass er es nicht leicht hat. Er kann kaum lesen und schreiben. Fernando begleitete den Buben bei der Musik so liebevoll mit Worten und Gesten, dass der Anfänger seinen Bogen locker ansetzte und alles mitspielen konnte. Stefan strahlte vor Glück und wich auch nach dem Konzert seinem Meister nicht mehr von der Seite. Er war jetzt Künstler in einem Orchester! Wohin auch immer sein Weg am Abend wieder führte, in die Armut, in die Not, heute war er auf der Bühne gewesen. Und er wird es weiter schaffen. Für mich war er der eigentlich Star des Rabentanzes.
Der Roma-Musiker Zuca fand Talente, wo sie niemand vermutet. Fernando ließ sich nicht nur von den Leistungsträgern im Orchester fesseln, er schaute auch auf den Schwächsten und schenkte ihm seine ganze Achtsamkeit. Der Außenseiter lebte auf, er spürte die Liebe, er war angenommen. Und brachte Töne zustande, die ihn selbst überraschten. Wie die verstoßene Hagar spürte der Kleine, dass ein Größerer auf ihn schaute. Beide, Hagar und Stefan, tranken aus dem „Brunnen des Lebendigen, der auf mich schaut“.
Wo hat mir jemand in der Schwäche und im Versagen Nähe gegeben? Auf meine Not geblickt und nicht weggeschaut?