Wo hast du Fremdsein oder Not erlebt?
Da zog Abram nach Ägypten hinab, um sich dort als Fremder niederzulassen; denn die Hungersnot lastete schwer auf dem Land.
Gen 12,10b
„Nie wieder will ich nach Hause!“ Wie oft hatte die kleine Paula den starken Wunsch bekräftigt, in unserer Gemeinschaft zu bleiben. Ihr „Zuhause“ war verbunden mit Hunger, Chaos, Dreck, Gewalt, in die Schule durfte sie auch nicht. Bei uns bekam sie saubere Kleider, dann wurde sie die nervenden Flöhe und Läuse los. Sie lernte lesen und nahm die Hürden zur Schule. Vieles war für sie fremd und neu, doch sie bemühte sich. Ordnung im Zimmer, Zähneputzen, Nachtruhe. Sie begann von einer Zukunft zu träumen, einer Zukunft als Erzieherin. Die Sehnsucht nach ihren jüngeren Geschwistern und der Mama machte sie manchmal traurig.
Eines Tages kam ihr großer Bruder Ghita mit anderen aus dem Clan auf dem Pferdewagen ins Dorf. Sie warteten vor der Schule, bis die Glocke läutete und die Kinder herausströmten. Da schnappten sie Paula und zerrten sie auf den Pferdewagen. „Mama liegt im Sterben. Sie will, dass du kommst und dich von ihr verabschiedest“, erklärten sie ihr. Tatsächlich aber sollte das Mädchen verheiratet werden und Geld ins Haus bringen. Das ahnte Paula, und sie wehrte sich. Doch sie fuhren mit ihr davon. Die Kinder vor der Schule schauten geschockt zu. Wir waren bereits alarmiert und hielten das Fuhrwerk an der Straße an. Ghita erzählte auch mir, dass die Mutter im Sterben liege. Als Beweis rief er sie an, und ich hörte ein erbärmliches Krächzen der angeblich Dahinscheidenden. Paula schüttelte den Kopf und sprang vom Wagen. „Ich will nicht nach Hause, ich will nicht mit dem verheiratet werden!“, schluchzte sie. Wütend fuhr Ghita weg. Wir riefen die Kindernotnummer in Sibiu an. Paula kam in die staatliche Fürsorge. Sie war gerettet, aber der Behördenweg war eine Tortur. Wochenlang wurde sie in einem Notquartier wie in einem Gefängnis festgehalten, bis wir das Erziehungsrecht für sie bekamen. Eine verletzte und doch starke Seele kam zurück in unsere Gemeinschaft.
Paula hat gekämpft. Für die anderen Mädchen ist sie eine Heldin. Mit dreizehn hilft sie im Haus mit wie eine Volontärin. Sie weiß nach dieser Hölle ganz klar, was sie will und was es für ihre Zukunft bedeutet, in die Schule zu gehen.
Paula hat ihr Lebensziel gefunden. Sie ist auf dem Weg, wie Abram, der dem Ruf Gottes ins Land Kanaan folgte. Er näherte sich seiner Lebensaufgabe, bis ihm eine schwere Hungersnot einen Strich durch die Rechnung machte. „Da zog Abram nach Ägypten hinab, um sich dort als Fremder niederzulassen.“ Dieser Abschnitt hat im Judentum die Überschrift „Geh zu dir selbst“. Über weite Strecken führt die spirituelle Reise aufwärts in der persönlichen Entwicklung. Dann aber gibt es den Einbruch, das Abwärts. Der Mensch gerät in Not. Jüdische Kommentare fragen: Warum diese Prüfung? Warum muss Abram hinab nach Ägypten in die Fremde? Oder später das Volk in die Unterdrückung im Exil? Ihre Antwort: Gott prüft Abram, ob er sich seiner Mission würdig erweist. Er härtet ihn gleichsam ab. Und er wird verglichen mit einer Gewürzdose, die geschüttelt werden muss, um ihr Aroma in alle Ecken eines Raumes zu verbreiten. Der persönliche Abstieg dient „dem Werk, den Namen Gottes zu verbreiten“. Entscheidend ist es, zu gehen.
Ein Abstieg kann wertvoll sein, stärken und die Augen für eine Aufgabe öffnen. Wo hast du Fremdsein oder Not erlebt?