Welchen Sinn haben Plagen? Wen schützen und befreien sie? In diesem Licht kann ich anschauen, was mich quält.
Warum hast du behauptet: Sie ist meine Schwester, sodass ich sie mir zur Frau nahm? Jetzt aber, siehe, da hast du deine Frau wieder, nimm sie und geh!
Gen 12,19
Unter dem Altar lag Ionuz und schnarchte laut. Ein kleiner, zarter Bub, barfuß, alles an ihm strotzte vor Dreck. Er war völlig übermüdet, weil er die ganze Nacht mit den Großen unterwegs gewesen war. Mit Bier und Zigaretten, dann hatten sie bis in den frühen Morgen ferngesehen. Die Mutter scherte sich nicht darum, der Vater war schon lange über alle Berge, Ionuz hat ihn nie kennengelernt. Wir nahmen den Buben in unsere Gemeinschaft auf. Er wollte nicht gerne lernen, oft bog er auf dem kurzen Weg zur Schule vorher links ab, in die Felder, zu den Pferden, in die Freiheit. Auch bei uns wollte er sich nicht einfügen. Es blieb ein Kommen und Gehen.
Jahre später, als während der Corona-Pandemie landesweit eine Ausgangssperre verordnet wurde, kletterte er über das große Tor und verschwand. Aber mit den zwei Schuljahren, die er absolviert hatte, konnte er nichts machen – für die dritte Klasse war er zu alt, für die Arbeit zu jung. Meistens wurde er nur kurz geduldet, denn er brachte nichts ein, niemand ließ ihn mitessen.
Jetzt ist Ionuz vierzehn Jahre alt und steht vor dem Nichts. Keiner will ihn. Sogar seine Freunde sagen, er lüge, stehle und tue nichts. Energydrinks, Alkohol, Zigaretten sind sein Vergnügen. Wir machten einen neuen Versuch. Ein paar Tage arbeitete er im Gewächshaus mit, es wurde ihm schnell zu mühsam. Manchmal kommt er zum Sozialzentrum oder spielt mit den Buben aus dem Kinderhaus Fußball, dann darf er auch zum Abendessen kommen. Doch er ist immer ein Störenfried und stachelt die anderen zu Blödsinn auf. „Und jetzt hat er auch schon Drogen genommen“, erzählten mir die kleinen Mädchen über den wilden Gast.
Ionuz wird zur Plage für das ganze Dorf. Natürlich ist er durch das, was er durchgemacht hat, selbst von vielen Plagen gequält. Dabei ist er ein witziger Bursche, der sich durchzuschlagen weiß und stärker ist als viele andere, wenn auch nicht im guten Sinn. Er ist zerstörerisch. Ich frage mich, ob er nicht eine zu große Gefahr für die Kinder in unserem Haus ist.
Wie der Pharao in Ägypten verwendet Ionuz seine Macht nicht zum Guten, sondern unterdrückt die Schwächeren, bis Gott seine Übermacht bricht. Erst da versteht der Pharao allmählich, dass er Böses im Sinn hatte, als er die schöne Frau eines Flüchtlings in seinen Harem nehmen wollte. In harten Plagen, die über den Pharao kommen, zeigt Gott seine rettende Macht. Der Pharao muss Abram und seine Frau ziehen lassen. „Da hast du deine Frau, nimm sie und geh!“
Neulich wollte Hermine aus dem Kinderhaus weglaufen. Sie hatte keine Lust zu lernen, die Rechenübungen hingen ihr zum Hals heraus. Die anderen bestürmten sie: „Wo willst du hin? Du hast kein anderes Zuhause. Willst du etwa werden wie Ionuz?“ Nein, das wollte sie nicht. Da setzte sie sich widerwillig hin und addierte die langweiligen Ziffern zusammen. Die Plagen des unbändigen Ionuz sind nicht zu Ende, aber immerhin haben sie ein kleines Mädchen davon abgeschreckt, ihr Leben wegzuwerfen.
Es bleibt die Frage: Welchen Sinn haben Plagen? Wen schützen und befreien sie? In diesem Licht kann ich anschauen, was mich quält.