Du wurdest gedemütigt und gequält? Was ist aus deinen Wunden geworden?
Der Engel des Herrn sprach zu ihr: Mehren, ja mehren werde ich deine Nachkommen, so dass man sie wegen ihrer Menge nicht mehr zählen kann.
Gen 16,10
„Was ist denn mit dir los, Daniela?“, wollte ich wissen. Sie zeigte von jeher wenig Initiative, war von zuhause gewohnt, auszuführen, was ihr jemand befahl. Das war vor allem der Vater. Und jetzt war sie schon wieder krank. Offensichtlich quälte sie etwas. Nach zehn Tagen erschien sie wieder zur Arbeit, bleich und traurig. „Ich musste das Kind töten“, begann sie und erstickte in Tränen, als sie endlich ihr Herz ausschütten konnte. Ihr Freund war ein Rom aus dem Nachbarort, sie waren schon einige Zeit zusammen und verstanden sich gut. Aber Danielas Vater hielt es nicht aus, dass seine Tochter mit einem „Schwarzen“ herumzog. Zwischen Roma und „Rumänen“ liegt ein tiefer Graben. So traf sie ihren Freund heimlich drüben im anderen Dorf, wo die Roma leben. Und jetzt war die junge Frau das dritte Mal schwanger, und der Vater hatte sie wieder gezwungen, das Kind des „Teufels“ abzutreiben. Er wolle keinen dunkelhäutigen Enkel, mit dem er sich schämen müsse. „In mein Haus kommt kein Zigeuner!“ Die Tochter gehorchte auch dieses Mal. Aber sie wusste, dass sie mit ihrem Partner zusammenbleiben wollte. Jetzt musste sie einen eigenen Weg gehen.
Aus dem Haus der Eltern auszuziehen war nicht leicht. Daniela zog zu ihrem Freund hinüber zu den Roma und setzte die Beziehung zum Vater aufs Spiel. Nach einer Eiszeit ließ sie ihre Eltern wissen, sie werde heiraten. Trotz allem, was geschehen war, kam der Vater zur Hochzeit, seine Frau hatte ihn überredet. Bald bekam das junge Ehepaar das ersehnte Kind. Als Daniela mit ihrem kleinen Pavel – große dunkle Augen, schwarzes Haar – bei den Eltern erschien, war der Bann gebrochen. Heute spaziert der Opa stolz mit seinem Enkel durchs Dorf und nimmt ihn mit bei der Arbeit auf dem Traktor. Er ist eben viel in der Sonne, erklärt er den Leuten, darum ist er so braun.
Die Tochter ist zu einer Brücke über einen tiefen Graben geworden. Eine Brücke für das ganze Dorf.
Welche Qualen hatte diese junge Mutter durchgestanden, bis sie ihren Weg fand und ihr Kind bekam! Ähnlich wie die Sklavin Hagar, die von ihrer Herrin gedemütigt und schließlich in die Wüste geschickt wurde. Mit Zustimmung des Vaters. Niemand kann Ungerechtigkeit gutheißen, und doch wurde aus dem Skandal eine nie erwartete Geschichte des Heils – mit Kindern, einem gewandelten Vater, einer glücklichen jungen Familie und neuer Nachbarschaft im Dorf. Der Friedensstifterin sind Nachkommen zu wünschen, wie sie Abram selbst und seine Magd Hagar verheißen wurden: „So dass man sie wegen ihrer Menge nicht mehr zählen kann.“
Zwei Völker stammen von zwei gedemütigten Frauen ab, Völker, die füreinander zu Rettern werden sollen. Roma und „Rumänen“, Moslems und Juden.