Leben lernen in der Vielfalt
Die Söhne Noachs, die aus der Arche gekommen waren, sind Sem, Ham und Jafet. Ham ist der Vater Kanaans. Diese drei sind Söhne Noachs; von ihnen aus verzweigten sich alle Völker der Erde.
Gen 9, 18-19
SIE: „Als Jüngstes einer kinderreichen und sehr religiösen Familie wuchs ich in einem von Bergen eingeschlossenen Tiroler Dorf auf. Religion und Kirche erlebte ich schon als Kind als hart und bedrohlich, ich lehnte sie innerlich ab. Sexualität und Liebe waren tabu. Es gab keine Möglichkeit, mit jemandem darüber zu sprechen. Früh schon hatte ich den Drang, aus dem Dorf auszubrechen und in die weite Welt zu reisen. Mit siebzehn Jahren zog ich in die Stadt, rebellisch, naiv und voller Drang, alles in mich aufzusaugen, lernte Drogen und einen jungen Künstler kennen. Mit knapp achtzehn Jahren, während meiner Ausbildung, bekam ich ein Kind, das kurz nach der Geburt aufgrund eines ärztlichen Fehlers starb. Den Vater des Kindes heiratete ich einige Jahre später, keine Liebesheirat, eher Mitleid und Helfersyndrom. Beziehung und Ehe waren von Anfang an eine Katastrophe. Gewalttätigkeit und purer Egoismus seinerseits – Angst und Unterwürfigkeit meinerseits. Das zweite Kind kam, von ihm nicht gewollt, von mir tapfer ausgetragen und geboren. Die bedrohlich zunehmende Aggressivität des Mannes, immer häufigere Migräneanfälle und rapider Gewichtsverlust erweckten in mir Fluchtgedanken und ließen mich schließlich bei Nacht und Nebel nach Deutschland zu einer Schwester fliehen.“
ER: „Ich war neunzehn, als ich meine Exfrau kennen lernte, mit dreiundzwanzig heirate ich – sogar mit kirchlichem Segen. Auf Drängen ihrer Eltern kündigte sie die Arbeitsstelle, da sie als Ehefrau genug Arbeit im Haushalt habe. Am Anfang ging alles gut. Nach zwei Jahren kam das erste Kind zur Welt, nach vier Jahren das zweite. Danach fingen die Schwierigkeiten an. Sie war mit ihrem Leben als Mutter und Hausfrau unzufrieden. Sie fing heimlich zu trinken an. Der Haushalt funktionierte nicht, die Kinder wurden nicht ordentlich versorgt. Es gab ständig Auseinandersetzungen. Die gemeinsame Lebensberatung brach sie nach der zweiten Sitzung ab. Der Alkoholkonsum wurde immer heftiger. Sie blieb nächtelang weg, hatte Männerbekanntschaften und vernachlässigte die Kinder immer mehr. Nachdem Nachbarn Anzeige beim Jugendamt erstattet hatten, leitete ich die Trennung ein und stellte einen Antrag auf das Sorgerecht für die Kinder.“
In einem Kreis für Alleinerziehende kreuzten sich ihre Wege. Er war der einzige Mann in dieser Gruppe, sie hatte zunächst von Männern „genug“. An einem Wochenende entschieden sie sich für das Abenteuer eines neuen gemeinsamen Lebens. Es folgte eine Zeit großer pädagogischer Herausforderungen, es gab viele juristische Vorgänge und Gerichtstermine. Zwei gemeinsame Kinder brachten noch einmal neuen Wind in das familiäre Beziehungsnetz. Inzwischen Großeltern, sagen beide im Blick zurück: Patchworkfamilie kann funktionieren. Große Hürden, viel Arbeit, intensive Auseinandersetzungen auf der einen Seite; überraschende Geschenke, viel Freude, stärkende Zufriedenheit auf der anderen Seite.
Was die beiden im kleinen familiären Beziehungsnetz erleben, mutet der Schöpfer der gesamten Menschheit zu. Mit drei unterschiedlichen Familien wagt er nach dem Reinigungsprozess der Erde einen Neustart. Leben lernen in der Vielfalt.