Das Versagen eines Menschen, der mir nahe ist, tut weh. Urteile ich über ihn oder will ich seine Not verstehen?
Ham, der Vater Kanaans, sah die Blöße seines Vaters und erzählte davon draußen seinen beiden Brüdern.
Gen 9,22
„Die alte Hure ist schuld. Sie hat mein Leben versaut“, schimpft Daniel. Wieder einmal hat er den Arbeitsplatz verloren. Der Chef hat ihm gesagt, er solle den Leim weniger dick auftragen. Doch Daniel verträgt keine Kritik, er verteidigt sich und wirft dann alles hin. Nun sucht er etwas Besseres. Auch seine Freundin hat ihn verlassen, weil er nicht wollte, dass sie den Führerschein macht. Er sei bindungsunfähig, das habe ihm sein Therapeut auch gesagt, meint er. Aufgewachsen im Kinderheim, hat er erst als Jugendlicher erfahren, wer seine Mutter ist. Und einige der Kinder, die seine Spielkameraden waren, sind seine Geschwister! Die Mutter hatte es als uneheliches Kind nicht leicht, sie suchte Geborgenheit. Von den Liebhabern wurde sie weggeschickt, wenn sie schwanger war. Sie konnte den Kindern kein Zuhause geben und musste alle nach der Geburt im Spital zurücklassen. So kamen sie in das Kinderheim. Niemand sagte damals den vierzehn Kindern, dass sie die gleiche Mutter hatten, zumindest Halbbrüder und -schwestern waren. Sie besuchte ihre Kinder nie, sie schämte sich.
Daniel hasst seine Mutter. Wenn er ein Problem hat, schimpft er über sie und erzählt allen, wie sehr er wegen ihr leiden musste. Bis heute ist sie an allem schuld. „Sie hat sich jedem hingeworfen, hat sich um keines von uns Kindern gekümmert. Ich will mit ihr nichts zu tun haben.“ Er werde es ganz anders machen als sie. Er möchte vor allem im Beruf zeigen, was er kann. Voller Optimismus geht er in das Bewerbungsgespräch für den neuen Job – selbst wenn er den neuen Chef für einen Idioten hält. Ob Daniel so weiterkommt? Kaum. Denn sein negatives Menschenbild zerstört alles, solange er seiner Mutter nicht verzeihen kann.
Daniel könnte wie Ham ein Kind Noachs sein, von dem es heißt: „Er sah die Blöße seines Vaters und erzählte davon draußen seinen beiden Brüdern.“ So etwas macht mein Schützling Daniel und versperrt sich damit jede Zukunft. „Die Blöße des Vaters zu sehen“ heißt, dort hinzuschauen, wo ich den Blick abwenden sollte. Zu urteilen, ohne sich in den anderen einfühlen zu können. Und dann noch anderen davon zu erzählen! Bei schwierigen Menschen begegne ich öfter der Eigenheit, dass jemand das Böse oder Schwache der Eltern hervorhebt, oft noch über den Tod hinaus. Das ist ein Fluch. So erlebt das Kind nicht die Zusage des vierten Gebots: Du wirst lange leben und es wird dir wohlergehen auf Erden. Weil es Vater und Mutter nicht ehren kann. Das gilt auch gegenüber Eltern, die versagt haben. Auch ein Straßenkind, das verstoßen wurde und seine Eltern nicht kennt, steht unter diesem bedingungslosen Anspruch, die Eltern zu ehren. Manchmal habe ich erlebt, wie ein Jugendlicher, der auf der Straße aufgewachsen ist, Heilung gefunden hat an jenem Punkt, wo er für die Eltern betete. In Sorge, wie es dem Vater und der Mutter wohl ging, die er nie gesehen hatte. Nicht aus Bosheit, sondern wohl aus Not hatten sie ihr Kind aufgegeben. Wann kommt Daniel so weit, dass er Erbarmen mit seiner armen Mutter haben wird? Dann würde es ihm besser gehen.
Das Versagen eines Menschen, der mir nahe ist, tut weh. Urteile ich über ihn oder will ich seine Not verstehen?