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Tagebuch

Wann hat Schreiben mir geholfen, dunkle Stunden zu bestehen?

Am siebenundzwanzigsten Tag des zweiten Monats war die Erde trocken.
Gen 8,14

Am 6. Juli 1942 war es so weit. Margot, die sechzehnjährige Tochter der deutsch-jüdischen Familie Frank, erhielt im damals von den Deutschen besetzten Amsterdam die Einberufung zu einem „Arbeitseinsatz“ in Deutschland. Die Betroffenen wussten, was das bedeutete. Über Nacht siedelte die Familie Frank zusammen mit einem bekannten Ehepaar in das seit längerem vorbereitete Versteck im Hinterhaus des firmeneigenen Lagers um, zugänglich nur durch einen drehbaren Schrank, der in einem großen Büro stand. Ein Leben auf engstem Raum begann, in dem Verdunkelung und Schweigen die wichtigsten Vorsichtsmaßnahmen waren. Einzig eine kleine Schar treuer und verschwiegener Eingeweihter, die die Eingeschlossenen mit Nahrungsmitteln und Literatur versorgten, und ein Radio waren die Tore zur Welt. Ein Glück, dass die jüngere Tochter Annelies Marie kurz zuvor zu ihrem dreizehnten Geburtstag am 12. Juni ein Tagebuch geschenkt bekommen hatte. Ausgestattet mit einem starken Charakter, genauer Beobachtungsgabe und beeindruckenden literarischen Fähigkeiten beschrieb und deutete Anne – wie sie in der Familie genannt wurde – die äußeren Bedingungen und die gruppendynamischen Prozesse unter diesen beengten Bedingungen. Alles kam zur Sprache: die Benutzungsordnung der einzigen Toilette für acht Personen, die zunehmend notwendige Rationierung der Lebensmittel, die enervierenden Streitereien … Besonders beeindruckend schildert sie ihren körperlichen und emotionalen Wandel von einem nach Vertrauen, Liebe und Zärtlichkeit verlangenden pubertierenden Mädchen, das manch hartes Wort gegen die Eltern findet, hin zu einer selbstkritischen, sich um Verstehen bemühenden jungen Frau. Ein kleines Beispiel aus Annes realistischem Blick auf ihre eigene Situation als Jüdin: „Wer hat uns das auferlegt? Wer hat uns Juden zu einer Ausnahme unter allen Völkern gemacht? Wer hat uns bis jetzt so leiden lassen? Es ist Gott, der uns so gemacht hat, aber es wird auch Gott sein, der uns aufrichtet. Wenn wir all dieses Leid ertragen und noch immer Juden übrig bleiben, werden sie einmal von Verdammten zu Vorbildern werden… Gott hat unser Volk nie im Stich gelassen, durch alle Jahrhunderte sind Juden am Leben geblieben.“ Worte einer Vierzehnjährigen, die an die Auferstehung ihres Volkes glaubte. Am 4. August 1944 verstummte die Stimme dieses Tagebuchs, Anne starb so wie ihre Schwester Margot im niedersächsischen Todeslager Bergen-Belsen, ihr Zeugnis aber lebt in siebzig Sprachen weiter.
Die Bibel fasst den Reinigungsprozess der Welt von allem Bösen und die Rettung der Familie Noachs literarisch als Tagebuch. Unvergessen der 17. des zweiten Monats im 600. Lebensjahr Noachs, der Tag, als der Regen kam. Nach vierzig Tagen endlich hört das Wasser auf, anzusteigen, 110 Tage lang treibt die Arche ruhig dahin. Am 17. des siebten Monats setzt sie dann auf einem Berg auf, am 1. des zehnten Monats werden alle Berge sichtbar, am 1. des ersten Monats – Noachs 601. Lebensjahr beginnt – wird das Dach der Arche weggenommen und am 27. des zweiten Monats hat die Familie wieder festen Boden unter den Füßen. Ein Jahr, das die Familie Noachs gelehrt hat, die Tage zu zählen. Zahlenangaben, die erst als Tagebucheinträge einen Sinn geben.

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